Samstag, 8. März 2014

Who’s Harry?

011 Es ist Nacht geworden über der Stadt, ich sitze im Loft von Louise und Patrick's Haus und sehe über die beleuchteten Dächer von Bristol. Da denke ich nach, was ich gerade erlebt habe.
Gerade noch habe ich mit meinem bayrischen Vorgänger Henning beim Stadtrundgang durch das wunderschöne Bristol und beim Italiener über die englische Fähigkeit nachgedacht, Dinge gelassen zu nehmen - völlig undeutsch also. Und genau eine halbe Stunde später bietet sich mir eine Gelegenheit, ebendiese Fähigkeit ganz praktisch einzuüben.
Ich möchte nach einem anstrengenden Tag in das geborgte Bett. Hilton Road ist die Straße, daran erinnere ich mich, und daran, dass ich die Hausnummer aufgrund der Überschaubarkeit der Straße schon finden werde. Der Araber im Taxi fragt auffällig oft nach der Straße, und wo sie wohl liegt, aber ich habe ja vorsorglich am Morgen alles auf meinem zum Abschied geschenkten Stadtplan eingezeichnet. Geduldig zeige ich dem Mann also die Karte wieder und wieder, lächle ein bisschen darüber, dass wir beide des Englischen nicht außergewöhnlich mächtig sind. Tatsächlich findet der Mann die Straße. Ich gebe Trinkgeld, obwohl ich das Gefühl habe, durch die Nachfragerei ist mehr Zeit verloren gegangen als unbedingt hätte sein müssen.
Ca. 10 Minuten später ist es mir klar: In dieser Straße stehen typisch englische Häuser, aber das Haus von Louise und Patrick ist nicht dabei. Dies ist der Moment, denke ich: Gelassen bleiben! Ich krame in meiner mit Autoversicherungsunterlagen, Bankbroschüren, gekritzelten Zetteln zu Telefon- und Handyangeboten und dem zur Sicherheit mitgeschleppten Bargeld überfüllten Handtasche – aber da finde ich den Zettel mit den Telefonnummern nicht. Muss ich heute morgen aus der Tasche genommen haben. Weder Carla oder Michael, noch Chris oder gar Louise im Urlaub kann ich also anrufen.
Spätestens jetzt kommt er: der deutsche Angstschweiß. Noch dazu fällt mir erst jetzt auf, dass die Gegend nicht gerade die beste in Bristol zu sein scheint. Ein mittlerweile ziemlich kalter Wind weht um Mülltonnen und verrostete Zäune. Die zahlreichen Handyshop-Besuche scheinen mir die einzige Auswegmöglichkeit zu zeigen: Ich brauche Internet!
Unverhoffterweise findet sich gegenüber der Hinton Road ein Pub. Davor stehen einige ältere Frauen, die auf meine Frage auch genauso reagieren: „We are old. We don’t have smartphones.“ Ok, sag ich, aber anscheinend kann selbst mein deutsches Gesicht leichte Anzeichen von Panik nicht verbergen. Deshalb jedenfalls zeigt sich die rothaarige der beiden Damen hilfsbereit. Ich soll zur Bar gehen und nach Harry fragen. Harry kann mir helfen, sagt sie. Naja, ich bedanke mich zwar überschwenglich, trage aber schon beim Öffnen der Schwingtür Zweifel in mir. Einladend sieht er eigentlich aus, der Pub, und so wie ich mir einen englischen Pub eigentlich nicht vorgestellt habe: hell und geräumig. An der Bar stelle ich mich neben ältere Männer und werde erstmal nicht bedient. Dann kommt ein junger, blonder Mann zu mir um mich zu bedienen. „Who is Harry?“, das ist stattdessen meine kurze Frage. Der Typ schaut mich an, seine Augenbraue hebt sich. Er wiederholt „Who is Harry??“ und schaut mich verschmitzt an. Blöder Anmachspruch, geht es mir durch den Kopf, was denkt der bloß? Aber süß ist er ja. Das Spiel macht Spaß: „Are you Harry?“, frage ich, und muss grinsen. Harry ist er nicht, natürlich nicht, trotzdem hört er sich meine Geschichte an, und als ihm klar wird, worum es geht, ist „Harry“ sehr hilfsbreit. Er holt sein eigenes Smartphone und antwortet auf mein: „I don’t want to keep you from working and earning money…“ mit „anything that keeps me from working is welcome.“ Nachdem ich Louise’s Mail und damit auch ihre Adresse nach unendlich langer Zeit gefunden habe, erklärt er mir geduldig, dass 26 Hinton Road, Easton, nicht in Fishponds liegt, und der gutmeinende Araber mich tatsächlich in die falsche Hinton Road gebracht hat. Er beschreibt mir auch, wo der Bus fährt, bzw. – „It’s not so easy.“ – wo die Taxis stehen.
Ich bin ihm sehr dankbar und erfahre danach sogar „Harry’s“ richtigen Namen: Simon. Simon lädt mich ein, mal sein Bier bei ihm zu trinken, und ich bin tatsächlich nicht abgeneigt.
Dass ich dem zweiten Taxifahren danach nochmal 8 Pfund zahle, um mich endlich nachhause zu bringen, macht mir trotz zahlreicher überteuerter Ausgaben an diesem Tag überhaupt nichts aus – denn die Investition in einen Ausflug nach Fishponds hat sich am Ende ganz schön gelohnt!

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